Kunstkalender 2020 – Kalenderblatt September
Die Digitalisierung hat inzwischen alle Lebensbereiche erfasst; sie ist nicht nur ein funktionales Werkzeug, sondern nimmt Einfluss auf das menschliche Denken und die Ästhetik. Oliver Haussmann zielt mit seiner Arbeit auf jenen Grenzbereich, in dem sich analoge gestalterische Schöpfungen mit der neuen Technologie verbinden. Das grau-weiße Schachbrettmuster des Hintergrundes, aus dem sich uns im Zentrum scheinbar eine Halbkugel entgegenwölbt, entspricht dem Raster für leere Felder bei Bildbearbeitungsprogrammen. Normalerweise würde in eine solche gemusterte Fläche ein Objekt, beispielsweise eine Fotografie oder eine Grafik, eingefügt werden. Doch stattdessen wird die Fläche selbst zum Motiv; sie wird verwandelt zum Raum. Um diesen zu konstruieren, hat Oliver Haussmann wiederum mit einem Computerprogramm gearbeitet und die entsprechende Verformung berechnen lassen. So entstand eine präzise zentrierte „Beule“ in der Fläche, wobei es im Detail zu interessanten Krümmungen und Kurven der einzelnen grauen und weißen Felder kommt. Der illusionistische Effekt ist jedoch perfekt. Während dieser digitale Bildbestandteil nicht gemalt, sondern aus Folie geschnitten und auf die Leinwand aufgeklebt ist, sind die vier „freien“ Elemente, die sich über das Raster wie Bänder winden, analog gemalt. Sie unterscheiden sich in ihrer Größe, aber erzeugen alle durch ihre Windungen in sich einen räumlichen Eindruck. Ihre blauen und roten Flächen sind mit Lichtstreifen und Schattenzonen moduliert. Die Farbgesten werfen selbst keine Schatten auf das digital erzeugte Raster, als ob sie dennoch körperlos wären. Sie setzen sich in tentakelartigen Fäden fort, welche die organische Gestaltung unterstreichen. Das darunterliegende Muster tritt in der Malerei allerdings ebenfalls deutlich zutage. Es verschmilzt mit ihr in manchen Partien, während es in anderen einen ausschnitthaften Kontrast bildet. Damit wird die Körperlichkeit dieser Objekte ebenfalls fragwürdig. Sie erscheinen wie halbtransparente Flüssigkeiten, die in dünnen Rinnsalen enden. Wenn wir bedenken, dass inzwischen ein Großteil der Bilder, die wir betrachten, nicht mehr an traditionelle Bildträger wie Papier oder Stoff gebunden sind, sondern rein digital an Bildschirmen entstehen, erscheint es konsequent, traditionelle Malerei mit der digitalen Basis in einen Dialog zu setzen. So können beide bildnerischen Prozesse ihre Stärken ausspielen und sich zu einem Neuen, Dritten verbinden.
Text: Jochen Meister
Der Künstler
